Bild: koer |
Er lief schon seit Stunden durch die Nacht und
versuchte sich mit dem dumpfen Bass, der aus seinen Kopfhörern schallte, zu
betäuben. Das Gras tat sein Übriges. Und so lief er und versuchte das Bild von
ihr abzuschütteln, wie sie ihn angeschaut und geschwiegen hatte, wie sie leise
aufgestanden war, so leise, dass er seinen eigenen Atem hören konnte, und wie
sie sich nicht umgedreht hatte. Er versuchte abzuschütteln, dass er es nicht
verstand, dass sie sich so lange streicheln mussten und dass er ihr immer wehtat.
Mit den Punkermädchen war es um so vieles einfacher. Rauchen, ein eindeutiger
Blick, ein Winkel in einer dunklen unbestimmten Gasse, deren kalter Betonboden
für einige Minuten zum Lager wurde. Dann wieder Rauchen und auf ein
unbestimmtes nächstes Mal. Die roten Lichter der Stadt erinnerten ihn an die
Länder seiner Reisen. Rotes Licht auf dunklen Straßen und er immer auf der
Suche nach dem Woanders-Sein. Rotes Licht, wie das, wenn die Sonne durch die
geschlossenen Augenlider schien, es war warm und beruhigend. Rot, wie das Blut
der Jungtiere im Labor, die man nicht brauchte und deren Schädel er an den
Waschbecken zertrümmerte, so wie es der Vater immer mit den Katzenjungen getan
hatte, die auf der Straße und zu viele waren. Einmal war eine junge Frau zu
ihnen gekommen und begann den Vater zu beschimpfen, warum er so was tue, warum
vor seinem Sohn, dass er sich schämen solle. Der Vater hatte sich aufgerichtet,
war einen Schritt auf die Frau zugegangen, seine großen schweren Hände straff
gespannt, sein Blick fest und unnachgiebig, und die Stimme der Frau wurde immer
leiser und der Vater nahm die toten Jungtiere und schmiss sie in die Mülltonne.
In dieser Nacht begann er durch das an den Hof anliegende Wäldchen zu streifen
und durch das anliegende Industriegebiet, in dem bei Nacht alles fremd und
unbestimmt war und in dem es bald auch keine Jungtiere mehr geben würde, die er
töten könnte. Und wenn er dann spät in der Nacht nach Hause kam, traf er
manchmal die Mutter, wie sie schweigend und vor sich hin starrend in der
dunklen Küche saß und deren Blick genauso stumm war wie ihre Lippen, in der
Nacht wie am Tag. Ihr Blick hingegen durchdrang ihn immer, dass es ihm nicht
wohl war, dass es ihm nicht passte. Als sie in einer Nacht durch ihr Viertel
streiften, hatte sie ihn zu einer Schaukel geführt und ihm ihre Kopfhörer
aufgesetzt. Ruhige Töne lullten ihn ein, sie wippte neben ihm und wollte nicht
mehr als seine Ruhe. Einmal wollte er das Gleiche für sie tun. Sie hatte
geweint, weil sie nicht weiter wusste, weil sie die Tropfen nicht mehr nehmen
wollte, die ihren Tag zusammenhielten, weil sie nicht verstand, dass alles kein
Oben und Unten hatte. Er hatte sie auf sein Lager gelegt und zugedeckt und ihr
Lieblingslied immer sich wiederholend abspielen lassen und gewartet, bis sie
sich beruhigt hatte. Und als sie beim Morgengrauen rauchend am Fenster saß und
die Passanten auf der Straße zählte, die schräg und nicht gerade über die Ampel
gingen, hatte er ihr gesagt, dass er wisse, wie sie sich fühlt. Dann hatte sie
ihn angeschaut und ihr Blick sprach mehr, als ihre Lippen es bisher getan
hatten. Dann waren sie das erste Mal zusammen in die Mittagssonne getreten und
ließen sich durch die Stadt treiben bis sie wieder am Stadtrand gestrandet
waren, an dem die Tankstelle im Tageslicht keinen Schutz mehr bot und keine
Straßenhunde und Nachtgestalten beherbergte. Und als sie dann wieder bei ihm
waren und sie ins Bad ging, um sich aus- und umzuziehen, war er wütend
geworden. Wütend darüber, dass sie das nicht vor ihm tun konnte, wütend
darüber, dass sie so zerbrechlich war. Er war es auch nicht, nie gewesen. Er
brauchte es auch nicht zu sein, es ging immer weiter, auch wenn das die
Schulpädagogin nicht verstehen wollte. Es war nichts, er wäre nicht anders,
wenn sein Vater anders gewesen wäre. Es gab nichts, worüber er reden musste, es
gab nichts, woran er etwas ändern musste. Dass er seine Klassenkameraden nicht
mochte, dass sie vor ihm zurückwichen, wenn er sich aufrichtete und einen
Schritt auf sie zuging und sein Blick in sie bohrte, war nicht sein Problem.
Dass sie zu schwach und ängstlich waren, war nicht sein Problem. Dass sie zu
schwach war, war nicht sein Problem. Dass sie gegangen war, war nicht sein
Problem. Und so ließ er sich von der Nacht verschlucken und von dem Bass seiner
Kopfhörer betäuben und er lief immer weiter zu der Tankstelle am Rande der
Stadt, um zu schauen, ob die Straßenköter Junge geworfen hatten, die zu viele
waren und für die es sowieso nicht genug Müll gab, der sie hätte ernähren
können.