Dienstag, 10. April 2012

Die Eltern

                                                         Bild: koer



Es war so schwer zu sagen, wer sie waren, seine Eltern. Was er wusste war, dass sein Vater aus einer konservativen Familie kam, in der der Mann zuerst das Essen serviert bekam. Eine Familie, in der die drei Söhne unter der strengen Hand ihres Vaters groß geworden waren und sich mit Anfang zwanzig noch Prügel abholen durften, wenn sie betrunken nach Hause kamen. Seine Mutter kam aus einer Familie, in der ihre Mutter den Mann im Krieg verloren hatte, in der sie mit den drei Mädchen über das Land floh, zu der nächsten deutschen Stadt am Meer, zu der ihre Füße sie tragen konnten. Eine Familie, in der das eine Mädchen auf der Flucht an Lungenentzündung gestorben war und ihre Mutter die zwei übrigen Mädchen allein in einem alten Backsteingebäude am Rande der großen Stadt groß zog. Nun saß er in der leeren Wohnung, in der sein Vater an Krebs gestorben war und seine Mutter mehr als einmal betrogen hatte, wie es auch die Brüder des Vaters mit ihren Frauen getan hatten, wie es der Vater des Vaters schon mit seiner Frau getan hatte. Er hielt das Foto der Hochzeit seiner Eltern in der Hand und versuchte aus dem Schwarzweiß zu lesen, in dem sie ihre Augen verbargen und scheinbar an der Kamera vorbeizuflüchten versuchten. War das einfach nur eine Momentaufnahme oder war es ein Vorzeichen ihrer Ehe? Augen zu und durch? Eigentlich hatte seine Mutter nie heiraten wollen, eigentlich hatte sie die Eigenständigkeit und Halsstarrigkeit von ihrer Mutter nicht nur mit der Muttermilch aufgenommen, sondern auch durch die Flucht, das Suchen und Sammeln zurückgebliebener unreifer Kartoffeln auf den Äckern, das Töten und Häuten der Kaninchen, die sie sich in einer kleinen Box im Garten hielten, um über den Winter zu kommen. Warum hatten sie geheiratet? Warum hatte er selbst nie geheiratet? Warum versuchte er immer von den Frauen weg zu kommen, die er liebte? Warum rief er sie nie an, wenn er auf seinen langen Reisen unterwegs war, und sagte ihnen, dass er sie vermisse? Die Arbeit als Drehbuchautor, die kleinen und großen Abenteuer, die er suchte, um einen Stoff besser zu entwickeln, der schmerzende verkrampfte Rücken und die müden Augen, wenn er nächtelang die Seiten am Computer zu füllen versuchte, hatten ihn nur seinen Figuren näher gebracht, aber nicht den Frauen, die er wohl liebte. Die alte Küchenuhr tickte in der Küche, wie sie es schon vor dreißig Jahren tat, an dem Morgen seiner Einschulung. Sie tickte genauso, wie sie es vor siebzehn Jahren tat, an dem Nachmittag, als er die elterliche Wohnung verließ, um die Filmhochschule zu besuchen. Genauso, als seine Mutter ihm vor sechzehn Jahren sagte, dass sie den Vater verlassen würde, dass sie die vielen Frauen nicht mehr zählen könne. Nur dass sie damit auch ihn, den Sohn verlassen würde, hatte sie ihm nicht gesagt. Als er mit dem Foto in der Hand in das alte Schlafzimmer der Eltern ging, was in den letzten Jahren nur noch das Schlafzimmer des Vaters gewesen war, knarrten die Holzdielen genauso, wie zu der Zeit, in der er sich noch heimlich vom Wohnzimmer in die Küche zu schleichen versuchte, die direkt neben dem Schlafzimmer lag, um ein bisschen von dem Kuchen zu naschen, den die Mutter manchmal Sonntags gebacken hatte. Er wusste nicht, ob diese Erinnerung zusammenpasste mit dem schalen Nachgeschmack, den er immer hatte, wenn er an seine Kindheit dachte. Nun hatte er dieses Foto in der Hand,  in der leeren Wohnung, in der sein Vater an Krebs gestorben war, und wusste nicht, ob er es behalten oder wegschmeißen sollte.


Text: meo

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