Samstag, 9. Juni 2012

Die Baustelle

                                                                   Bild: koer

Sie fuhren zu der Baustelle am Rande der Stadt. Die Straßen und die Vögel schwiegen, nur der Wind zischte durch die Speichen ihrer Räder, die sie von den Trinkern bei der alten Tankstelle geklaut hatten. Zwischen ihnen gab es kein Wort und kein Blick, nur die Unruhe. Sie ließen die Räder vor dem Zaun stehen und bestiegen das Gerüst, das kalt und silbern die nackte Fassade stützte und krochen in die dunkle Höhle aus Beton. Nur die Lichter der Kräne, die rot im Himmel brannten, spiegelten sich in seinen Augen, den Augen, die die Nacht und ihren Angstschweiß aufsogen, wie ein Lappen die verschüttete Flüssigkeit. Er hatte ihr vorgeschlagen, den Kran zu besteigen und sie hatte eingewilligt, ohne von ihrer Höhenangst zu sprechen. Die Höhenangst, die sie hatte, seitdem ihre Schwester ihre Puppe aus dem Fenster des Hochhauses geworfen hatte und die dumpf auf den grauen Platten zerborsten war. Mit diesem Abend hörten sie auf gemeinsam Wasserbomben auf die Passanten zu schmeißen, hörten sie auf Papierflugzeuge anzuzünden und zum Himmel zu schicken, wenn sie, wie so oft, nachts alleine waren, weil der Vater schon lange fort war und die Mutter wie so oft erst am frühen Morgen von irgendwo nach Hause kam. Er war in einen Nebenraum gegangen, sie hörte seine Schritte knirschend auf dem dreckigen Beton, hörte das Schnappen seines Feuerzeugs und seinen Atem, den sie jetzt gerne an ihrem Nacken gespürt hätte. Er legte sich auf den kalten und nackten Boden und rauchte seinen Joint. Er wusste nicht, warum er sie mit her genommen hatte, wusste nur, dass er nicht alleine sein wollte, dass er nicht wollte, dass diese Unruhe in seinen Eingeweiden tobte, um ihn taub und blind zu machen. Er wusste auch nicht, was das mit ihr war, warum er es nicht verstand, aber sie war klein und hübsch und zerbrechlich. Der Boden erinnerte ihn an den alten Keller, in dem er sich oft als Kind vor seinem Vater versteckt hatte, um wenigstens ein paar Stunden verschont zu bleiben, um sich einlullen zu lassen von der Dunkelheit und der Kühle, in der er sich geborgen fühlte und sicher und behütet. Seit dem er sie kannte, und sie ihm von den Katzen erzählt hatte, denen sie als kleines Mädchen immer heimlich Milch und Sardinen aus der Dose brachte, die eines Tages nicht mehr da waren, seitdem sie vor einigen Nächten auf der Straße eine streunende Katze gedankenversunken gestreichelt hatte, seitdem sah er sie manchmal vor sich im Labor, wenn er die Jungtiere tötete. Seitdem rauchte er bei der Arbeit manchmal einen Joint im angrenzenden Waldstück vor dem Lieferanteneingang. Sie kam zu ihm, ganz leise, und legte sich neben ihm, ohne ein Wort, was er mochte, und dass sie nicht miteinander reden mussten. Er wurde unruhig, trotz des Dopes, und fragte sie, ob sie ihn streicheln könne. Sie streichelte ihn, an den Wangen, über das Haar, an den Armen entlang und über den Bauch. Er beugte sich zu ihr um sie zu küssen, verharrte, ließ seine Hand unter ihren Pulli gleiten und griff ihr etwas hart in den Schritt. Sie rollte sich weg, er wurde wütend und fragte, ob sie sich immer wie 14jährige ewig streicheln müssten. Sie verstand nicht und versuchte die Beklemmung, das Zusammenziehen ihres Körpers, dass sie immer kleiner und kleiner werden ließ, nicht zu spüren. Er stand auf, verließ die Höhle aus Beton, trat dem Wind und der Kälte entgegen und steuerte auf den Kran zu. Seine Hände fassten den frostigen Stahl, der in seine Hände stach, doch es machte ihm nichts aus. Er fühlte sich sicher, denn die Stiche hielten ihn an dem Kran wie die Zunge an einem gefrorenen Eiszapfen. Als er die Hälfte bestiegen hatte, sah er sie auf ihr Fahrrad steigen und er wusste, dass sie weinte und es war ihm egal und es drückte auf seine Schläfe, doch das schüttelte er ab und er stieg höher, weiter ins Dunkel, weiter weg von der Stadt und weiter weg von dem Tag, der ihn Mühe gekostet hatte. Und so war er allein auf der Baustelle, wo die Straßen und die Vögel schwiegen und der Wind durch die Stahlträger des Krans zischte und für einen Moment fühlte er sich sicher und behütet in der Kälte und der Stille der Nacht.

Text: meo

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