Samstag, 9. Juni 2012

Mitternacht

                                            Bild: koer

Es war kurz vor Mitternacht. Ihr Rücken schmerzte und irgendwo hinter ihren Augen drückte etwas gegen die Schädeldecke, zappelte wie das fahle Neonlicht der Straßenlaternen vor ihrem Fenster. Er hatte ihr eine SMS geschickt, dass er da sei und was sie so mache. Sie wusste sofort was sie machen würde, danach musste er nicht fragen. Draußen auf der Straße, deren Frost unter ihren Füßen knirschte, sog sie die Luft ein, die Nasenflügel weit offen, wie ein Säugling seine erste Muttermilch. Sie sog die Luft ein, wie ein Spürhund, der das Blut des angeschossenen Kaninchens wittert, mit Lust und Ungeduld. Der Weg war weit, den Hügel runter, auf die Hauptstraße der Stadt, an ihr entlang, vorbei an der still gelegten Tankstelle, bei der sich immer nachts die Trinker trafen, über den Bach in die helle und saubere Altstadt. Hier wohnte er in einem Hinterhof, in einer Höhle, die nach Moschus roch. Ihre Begrüßung bestand nur aus einem Augenblick, dann gingen sie in sein Zimmer, auf seine Matratze, die am Boden lag, schauten an die Decke und redeten. Und wenn sie so miteinander redeten, und sein Blick sie durchdrang, dann hatte sie das dringende Bedürfnis zu rauchen, den kalten Dampf tief in ihre Lungen zu ziehen, ihn so lange wie möglich in jede der Poren zu saugen, um ihn dann wieder freizugeben. Sie hatte in ihrer Brusttasche die Billigzigaretten aus der Kaufhalle dabei, die sie sich schon mit 14 gekauft hatte. Sie waren billig und gut. Er fragte sie, was sie sich wünsche, sie wusste es nicht, sagte aber, dass sie sich wünsche, dass ihre Wünsche sich erfüllten. Er wusste auch nichts und sagte, dass er sich wünsche, Menschen kennen zu lernen und mit ihnen zurecht zu kommen. Das wünschte sie sich insgeheim dann auch. Dass er nicht immer so provokant und dann so unsicher und dann so bissig sein würde. Dass er sich nicht bei Sonne auf der Wiese nackt neben sie legen würde, selbstbewusst mit durchgedrücktem Rücken und davon erzählen würde, wie er gerne das Nachbarsmädchen durchnehmen würde, dass sie es verdiente  in den Po gefickt zu werden. Wenn er so sprach, dann mochte sie ihn nicht. Auch wenn gerade diese Kraft, diese kalte Wut, sie angezogen hatte, wie eine Fliege an einen Klebestreifen, der nicht hielt, was er versprach. Als sie sich das erste Mal nach vielen Nächten, in denen sie geredet, geraucht und getrunken hatten, in denen sie schrittgleich wie ein Ganzes durch die Gassen gezogen waren, näher kamen, spielte er auch mit ihr. Sie waren auf seinem Lager, das nach Moschus roch, und sie las ihm vor. Er begann an ihrem Zeh zu spielen, sie las ihm vor, er strich ihr über die Arme, sie las weiter, und es fühlte sich zärtlich an. Doch es war genauso zärtlich, wie die Katze mit ihren weichen Tatzen, aus denen die Krallen fuhren, die Maus wie einen Federball immer wieder durch die Luft schleuderte, immer wieder hin und her. Und als sie dann müde war und Lust bekam, ließ er sich lachend dazu herab sie zu küssen. So machte er es immer, seit er mit 13 Mädchen verführte, seit er der großen schwer herabbrausenden und tobenden Hand seines Vaters entkommen wollte, seit er wusste zu spielen. Dann trieb er sich durch die Nacht und durch die Punkermädchen, die er nachts traf. Nur war dieses Mädchen hier unter ihm kein Punkermädchen, sie war klein und hübsch und zerbrechlich. Und dass er sie zerbrechen konnte, reizte und beschwerte ihn und diesem Druck entkam er nur, wenn er es ignorierte und ihr nicht in die Augen sah. Dann sah sie in seine Augen, sah dieses Funkeln, dass sie nachts bei den Straßenhunden immer gesehen hatte, die ausgehungert den Müll durchsuchten und sie, die an ihnen vorbei musste, fixierten. Sie sah in seinen Augen sich selbst, ein Etwas aus Fleisch und Blut, das unter ihm pulsierte, nichts mehr. Dann sah er, dass sie ihn sah, dass sie sah, wie er sie sah, und brach ab. Dann lag sie frustriert neben ihm, weil sie gerne gelitten hätte, weil sie sich gerne verschlungen lassen hätte, um dieses Schwarz zu kosten, in dieser Höhle, die nach Moschus roch. Dann lag er frustriert neben ihr, weil er mit ihr nicht das machen konnte, was er gewohnt war zu tun. Dann streichelte sie ihn, dann fragte er sie ob sie es auch ohne Gummi tun könnten, dann sagte sie ja, dann blutete sie, weil sie die Tage hatte und dann verstummten sie. Dann redeten sie nicht mehr über ihren Tag, nicht mehr darüber, wie er die anderen Laboranten verabscheute, nicht mehr darüber, dass sie heute nur zwei Seiten geschrieben hatte, von denen sie fast eine Ganze wieder gelöscht hatte. Ihr Rücken schmerzte immer noch und das fahle Neonlicht der Laterne vor seinem Haus zappelte ein bisschen, erlosch dann und irgendwann schloss sie die Augen und war bereit zu gehen. Raus in die Nacht, die nach Erde roch, deren Luft sie tief in ihre Nasenflügel ziehen würde, wie ein Säugling seine erste Muttermilch.

Text: meo

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