Bild: meo
Ein Mann, der sich auskannte
Die Treppenhäuser des Wiener Universitätsgebäudes sind
um einen schattigen Kreuzgang angesiedelt. Alle fünf Schritte führt eine
Schwingtür aus dunkelbraunem Holz ab. Nur wenn man die Stiegen-Nummer weiß,
kann man abschätzen, wo diese Treppen hinführen. Während meiner Studienzeit an
der Uni Wien verirrte ich mich regelmäßig in jenen Höhlen der Lehre. Die
Treppenstufen wie auch die Böden des Gebäudes sind aus Marmor. Die Stiege
sechs, der Aufgang zur Bibliothek, bietet einen besonders mondänen Anblick.
Einige Stufen führen geradeaus und die beiden anderen Treppenabsätze jeweils
nach links oder rechts, die weitere Dimensionen nur andeuten. Eine Kuppel aus
Glas hüllt das Treppenhaus in ein angenehmes Licht und die Stimmen der
Treppensteiger hallen in dessen Volumen, ohne je ganz verebben zu scheinen.
Nach dem ersten Treppenabsatz der Stiege sechs befindet sich eine Inschrift aus
Messing in Erinnerung an einen Wiener Studenten und Widerstandskämpfer, der auf
diesem Fleck Opfer des Naziterrors wurde. Von einer Empore im Reich des Marmors
haben sie ihm den Genickschuss verpasst, vielleicht als er dort gerade
politische Flyer hinunterwirbeln ließ. Es ist noch kein Jahr her als ich eben
jene Stiege sechs zur Hauptbibliothek nehmen wollte, um einige Bücher
abzuholen. Es war ein heißer Tag im Juni. Ich war ohne Büstenhalter aus dem
Haus gegangen. Ich kann es nicht leiden, wenn er anfängt auf der Haut zu
kleben und die Brustwarzen anschwellen, weil sie sich an der Synthetik reiben.
Gerade als ich mir überlegte, ob ich wohl lieber doch einen getragen hätte,
bemerkte ich jemanden hinter mir. Es waren nur einige Sekunden, in denen ich
ihn erhaschte. Ein hochgewachsener Mann in schwarzem Anzug. Breite Schultern.
Stattliche Erscheinung. Mit ausreichendem Abstand, professionell, vielleicht
manieriert, drückte er hinter mir die Türe auf. Ich sah seine große Hand, gepflegt,
feine schwarze Härchen auf dem Handgelenk und eine wertvolle Armbanduhr mit
römischem Ziffernblatt. Dann ging er hinter mir die Treppe hoch. Ich bemerkte
verlegen, wie er sich meinem Schritttempo anpasste, dachte daran, dass er, wenn
er wollte, mit seinen Blicken meinen Hüften und meinem Gesäß folgen konnte. Ich
war erregt. Ich drehte mich kurz um und verlangsamte meinen Schritt. Der Mann
legte den Kopf etwas in den Nacken und begutachtete das Gebäude, als ob er zum
ersten Mal hier sei und stellte laut, wie zu sich selbst, fest, dass sie an der
Uni Wien schon wieder viel renoviert und gemacht hatten. Dabei lächelte er zu
mir hoch und ich erwiderte, dass ich an diesen Renovierungen und dem frisch
gemachten Rasen unten im Kreuzgang zumindest nichts Schlechts finden konnte.
Ich lachte ihn an und fuhr mir ganz bewusst durchs Haar. Ich dachte über meine
freiliegenden Brüste unter dem Bolerojäckchen nach. Wir kamen ins Gespräch. Er
mache seine zweite Doktorarbeit hier an der Uni Wien in interkultureller
Philosophie. Hinter seinem Wiener Dialekt hörte ich einen ausländischen
Einschlag. Ich schätzte ihn zwischen 40 und 50 Jahren, seine Physiognomie hatte
etwas Osmanisches, ganz vorne an der Stirn waren die schwarzen Haare kaum merklich
angegraut. Seine Augen waren grün, erforschten mich, ohne Umwand, ganz
direkt. Ob ich mich auf einen Kaffee einladen ließe? Er wusste, dass ich einsam
war, dass ich Gesellschaft wünschte. Er wusste, dass ich Tee mochte. Er wusste,
dass ich das Teehaus gegenüber von der Uni der Kaffeeküche am Schottenring
vorzog.
Mein Grenzgang begann. Jener Grenzgang dauerte
von 17-19 Uhr, führte durch die verschlungenen Gassen des ersten Bezirks,
vorbei an der schnauzbärtigen, engrockigen High-Society der Wiener
Rathausbürokratie. Er sei einer der letzten Erben Kaiser Konstantins. Das
Medizinstudium habe er zu Ende gemacht, aber Arzt habe er dann doch nicht
werden wollen. Er habe eine gute Freundin aus Stuttgart. Sie spreche ähnlich
wie ich. Sie sei ebenso wortgewandt. Die Eltern verloren, als er fünf Monate
alt war. Pierrot sein Name oder eine Erfindung für mich. Die Gassen des 1.
Bezirks waren still und formten ein schattiges Pflastersteinlabyrinth an diesem
heißen Sommertag. Etwas schien in ihnen zu lauern. Pierrot kam mir schnell
nahe, musterte mich, tippte sofort richtig, dass ich Ballett getanzt hatte,
aber etwas an meiner Haltung verrenkt war- und er wollte mich wieder zurechtbiegen
in Gassen, in denen ich mich nicht alleine zurecht finden würde, nicht in dem
Tempo zumindest, in dem wir sie durchflanierten. Im Palais Ferstel,
wohltemperiert, plauderte er vom venezianischen Prunk des Palazzos, wollte sich
auf dem Brunnen dort niederlassen, um meine blassen Arme zu mustern. Ich wehrte
ab, verhedderte mich in schlagfertigen Phrasen, suchte Halt in den warm
beleuchteten Schaufenstern der Passage. Komplimente ließ er wie nebenbei fallen
und sie rannen meine Kehle herunter wie der Aperol Spritz, den er uns in der
Bodega Marqués bestellte. Er begann von einem Kongress zu erzählen, ein
Kongress gegen Rassismus und eine Journalistin, blond und großbusig habe ihn
gefragt, welche Lösungen er für dieses Problem vorschlage: „Alle müssten solange
durcheinander vögeln, bis wir alle dieselbe Hautfarbe haben“. Danach habe sie
ihn danach gefragt, ob sie nicht Hautfarben vermischen wollten, aber er habe
abgelehnt. Er konnte jede haben, wenn er wollte. Die klare Botschaft reizte
mich, brachte mich in zwiespältige Wallung. „Dein Mund, wie er sich bewegt und
aufbäumt. Zum Küssen“, sagte Pierrot über orangenem Aperitif, er klang
dabei beinahe zynisch. Ich begann mich zu wehren, Eindeutigkeiten verzweifelt
wegzulachen und zu kontern, doch er hatte immer ein besseres Argument. Ich weiß
nicht wie, aber ich folgte ihm nach unserem Drink erneut durch die Gassen, kaum
nachdenkend darüber, was es war, das er mir zeigen wollte. Er sprach davon,
mich bald in die Oper auszuführen. Im Kino laufe außerdem gerade ein guter Film
mit Gérard Dépardieu. Ich erzählte ausweichend vom baldigen Besuch meines
Bruders. Meines großen Bruders David. David, der Goliath besiegt hatte. Wir
kamen vor einem wunderschön renovierten Altbau an. Keine Seltenheit in
Wien und noch weniger überraschend im ersten Bezirk. „Kannst du die Jahreszahl
erkennen?“ Noch standen wir gegenüber auf der anderen Straßenseite. Das Baujahr
des Hauses war 1423. Er bekam seine Wirkung. Ich drückte Erstaunen aus, nahm
meine Sonnenbrille ab. Er gab mir einen sanften Impuls und wir überquerten die
Straße. Er zog einen Schlüsselband aus der schwarzen Ledertasche, die er bei
sich trug und schloss die Türe des, wie er sagte „ältesten Wohnhauses Wiens“
auf. Ich hielt die Tür gehorchend auf, aber weigerte mich, einzutreten. Mir war
jetzt klar, dass der Kloß in meinem Hals keine angestauten verklumpten
Komplimente über meine Figur und meinen Mund waren, sondern jene Angst vor
einem Menschen, diesem Mann, jenem Pierrot. Es war seine Unnachgiebigkeit,
seine Sicherheit beziehungsweise Eingeübtheit, die die Tür hinter mir ins
Schloss fallen ließ und mich mit zitternden Knien in seine Wohnung beförderte,
wo er die Vorhänge zuzog und wieder von Hinten meinen Körper vor einem großen
Spiegelschrank behutsam zurechtzubiegen versuchte. Die Wohnung war fast leer,
nur ein Foto hing an der Wand, auf dem Pierrot Weintrauben stampfte. Niemand
würde mich hören, nur vielleicht die glatzköpfigen, zwillingsähnlichen
Anzugträger, die an uns wie durch Zufall zweimal vorbeigelaufen waren und im
Restaurant gelangweilt die Glut ihrer Zigaretten abgeklopft hatten. „Ich möchte
gehen. Jetzt sofort.“ Er ließ mich los, er wirkte wütend. Wie ich meine Tränen
hasste und wie ich sie liebte. Sie rannen die Wangen herunter und ein paar
landeten auf seinem schwarzen Jackett, an das er mich herzlos drückte, um mich
still zu kriegen. Ehe ich mich versah, standen wir wieder auf der Straße und
seine Argumente, die Kalkül hatten, bretterten von Neuem los. Ich sei doch sein
Herz, seine Schwester. Die Welt, ja die Welt ertrage er nur durch ewige, die
erneuerbare, immer fortwährende Liebe. Er warte am nächsten Tag um 18 Uhr auf
mich in der Glaserei, einem kleinen zweistöckigen Café am Wiener Ring. Anstatt
in die Glaserei zu gehen, traf ich mich mit einer Freundin und kauerte in der
Sonne auf einem der Plastikblöcke des Museumsquartiers und dachte daran wie er
nun in der Glaserei sitzen würde, sich in der Sicherheit wiegend, dass ich
dieses Mal seine Wohnung nicht so schnell wieder verlassen würde.
Text: koer
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