Freitag, 26. Oktober 2012

Durch die Nacht




Bild: koer
Er lief schon seit Stunden durch die Nacht und versuchte sich mit dem dumpfen Bass, der aus seinen Kopfhörern schallte, zu betäuben. Das Gras tat sein Übriges. Und so lief er und versuchte das Bild von ihr abzuschütteln, wie sie ihn angeschaut und geschwiegen hatte, wie sie leise aufgestanden war, so leise, dass er seinen eigenen Atem hören konnte, und wie sie sich nicht umgedreht hatte. Er versuchte abzuschütteln, dass er es nicht verstand, dass sie sich so lange streicheln mussten und dass er ihr immer wehtat. Mit den Punkermädchen war es um so vieles einfacher. Rauchen, ein eindeutiger Blick, ein Winkel in einer dunklen unbestimmten Gasse, deren kalter Betonboden für einige Minuten zum Lager wurde. Dann wieder Rauchen und auf ein unbestimmtes nächstes Mal. Die roten Lichter der Stadt erinnerten ihn an die Länder seiner Reisen. Rotes Licht auf dunklen Straßen und er immer auf der Suche nach dem Woanders-Sein. Rotes Licht, wie das, wenn die Sonne durch die geschlossenen Augenlider schien, es war warm und beruhigend. Rot, wie das Blut der Jungtiere im Labor, die man nicht brauchte und deren Schädel er an den Waschbecken zertrümmerte, so wie es der Vater immer mit den Katzenjungen getan hatte, die auf der Straße und zu viele waren. Einmal war eine junge Frau zu ihnen gekommen und begann den Vater zu beschimpfen, warum er so was tue, warum vor seinem Sohn, dass er sich schämen solle. Der Vater hatte sich aufgerichtet, war einen Schritt auf die Frau zugegangen, seine großen schweren Hände straff gespannt, sein Blick fest und unnachgiebig, und die Stimme der Frau wurde immer leiser und der Vater nahm die toten Jungtiere und schmiss sie in die Mülltonne. In dieser Nacht begann er durch das an den Hof anliegende Wäldchen zu streifen und durch das anliegende Industriegebiet, in dem bei Nacht alles fremd und unbestimmt war und in dem es bald auch keine Jungtiere mehr geben würde, die er töten könnte. Und wenn er dann spät in der Nacht nach Hause kam, traf er manchmal die Mutter, wie sie schweigend und vor sich hin starrend in der dunklen Küche saß und deren Blick genauso stumm war wie ihre Lippen, in der Nacht wie am Tag. Ihr Blick hingegen durchdrang ihn immer, dass es ihm nicht wohl war, dass es ihm nicht passte. Als sie in einer Nacht durch ihr Viertel streiften, hatte sie ihn zu einer Schaukel geführt und ihm ihre Kopfhörer aufgesetzt. Ruhige Töne lullten ihn ein, sie wippte neben ihm und wollte nicht mehr als seine Ruhe. Einmal wollte er das Gleiche für sie tun. Sie hatte geweint, weil sie nicht weiter wusste, weil sie die Tropfen nicht mehr nehmen wollte, die ihren Tag zusammenhielten, weil sie nicht verstand, dass alles kein Oben und Unten hatte. Er hatte sie auf sein Lager gelegt und zugedeckt und ihr Lieblingslied immer sich wiederholend abspielen lassen und gewartet, bis sie sich beruhigt hatte. Und als sie beim Morgengrauen rauchend am Fenster saß und die Passanten auf der Straße zählte, die schräg und nicht gerade über die Ampel gingen, hatte er ihr gesagt, dass er wisse, wie sie sich fühlt. Dann hatte sie ihn angeschaut und ihr Blick sprach mehr, als ihre Lippen es bisher getan hatten. Dann waren sie das erste Mal zusammen in die Mittagssonne getreten und ließen sich durch die Stadt treiben bis sie wieder am Stadtrand gestrandet waren, an dem die Tankstelle im Tageslicht keinen Schutz mehr bot und keine Straßenhunde und Nachtgestalten beherbergte. Und als sie dann wieder bei ihm waren und sie ins Bad ging, um sich aus- und umzuziehen, war er wütend geworden. Wütend darüber, dass sie das nicht vor ihm tun konnte, wütend darüber, dass sie so zerbrechlich war. Er war es auch nicht, nie gewesen. Er brauchte es auch nicht zu sein, es ging immer weiter, auch wenn das die Schulpädagogin nicht verstehen wollte. Es war nichts, er wäre nicht anders, wenn sein Vater anders gewesen wäre. Es gab nichts, worüber er reden musste, es gab nichts, woran er etwas ändern musste. Dass er seine Klassenkameraden nicht mochte, dass sie vor ihm zurückwichen, wenn er sich aufrichtete und einen Schritt auf sie zuging und sein Blick in sie bohrte, war nicht sein Problem. Dass sie zu schwach und ängstlich waren, war nicht sein Problem. Dass sie zu schwach war, war nicht sein Problem. Dass sie gegangen war, war nicht sein Problem. Und so ließ er sich von der Nacht verschlucken und von dem Bass seiner Kopfhörer betäuben und er lief immer weiter zu der Tankstelle am Rande der Stadt, um zu schauen, ob die Straßenköter Junge geworfen hatten, die zu viele waren und für die es sowieso nicht genug Müll gab, der sie hätte ernähren können. 

Text: meo