Freitag, 1. Juni 2012

Ein Mann, der sich auskannte



Bild: meo




Ein Mann, der sich auskannte 



Die Treppenhäuser des Wiener Universitätsgebäudes sind um einen schattigen Kreuzgang angesiedelt. Alle fünf Schritte führt eine Schwingtür aus dunkelbraunem Holz ab. Nur wenn man die Stiegen-Nummer weiß, kann man abschätzen, wo diese Treppen hinführen. Während meiner Studienzeit an der Uni Wien verirrte ich mich regelmäßig in jenen Höhlen der Lehre. Die Treppenstufen wie auch die Böden des Gebäudes sind aus Marmor. Die Stiege sechs, der Aufgang zur Bibliothek, bietet einen besonders mondänen Anblick. Einige Stufen führen geradeaus und die beiden anderen Treppenabsätze jeweils nach links oder rechts, die weitere Dimensionen nur andeuten. Eine Kuppel aus Glas hüllt das Treppenhaus in ein angenehmes Licht und die Stimmen der Treppensteiger hallen in dessen Volumen, ohne je ganz verebben zu scheinen. Nach dem ersten Treppenabsatz der Stiege sechs befindet sich eine Inschrift aus Messing in Erinnerung an einen Wiener Studenten und Widerstandskämpfer, der auf diesem Fleck Opfer des Naziterrors wurde. Von einer Empore im Reich des Marmors haben sie ihm den Genickschuss verpasst, vielleicht als er dort gerade politische Flyer hinunterwirbeln ließ. Es ist noch kein Jahr her als ich eben jene Stiege sechs zur Hauptbibliothek nehmen wollte, um einige Bücher abzuholen. Es war ein heißer Tag im Juni. Ich war ohne Büstenhalter aus dem Haus gegangen. Ich kann es  nicht leiden, wenn er anfängt auf der Haut zu kleben und die Brustwarzen anschwellen, weil sie sich an der Synthetik reiben. Gerade als ich mir überlegte, ob ich wohl lieber doch einen getragen hätte, bemerkte ich jemanden hinter mir. Es waren nur einige Sekunden, in denen ich ihn erhaschte. Ein hochgewachsener Mann in schwarzem Anzug. Breite Schultern. Stattliche Erscheinung. Mit ausreichendem Abstand, professionell, vielleicht manieriert, drückte er hinter mir die Türe auf. Ich sah seine große Hand, gepflegt, feine schwarze Härchen auf dem Handgelenk und eine wertvolle Armbanduhr mit römischem Ziffernblatt. Dann ging er hinter mir die Treppe hoch. Ich bemerkte verlegen, wie er sich meinem Schritttempo anpasste, dachte daran, dass er, wenn er wollte, mit seinen Blicken meinen Hüften und meinem Gesäß folgen konnte. Ich war erregt. Ich drehte mich kurz um und verlangsamte meinen Schritt. Der Mann legte den Kopf etwas in den Nacken und begutachtete das Gebäude, als ob er zum ersten Mal hier sei und stellte laut, wie zu sich selbst, fest, dass sie an der Uni Wien schon wieder viel renoviert und gemacht hatten. Dabei lächelte er zu mir hoch und ich erwiderte, dass ich an diesen Renovierungen und dem frisch gemachten Rasen unten im Kreuzgang zumindest nichts Schlechts finden konnte. Ich lachte ihn an und fuhr mir ganz bewusst durchs Haar. Ich dachte über meine freiliegenden Brüste unter dem Bolerojäckchen nach. Wir kamen ins Gespräch. Er mache seine zweite Doktorarbeit hier an der Uni Wien in interkultureller Philosophie. Hinter seinem Wiener Dialekt hörte ich einen ausländischen Einschlag. Ich schätzte ihn zwischen 40 und 50 Jahren, seine Physiognomie hatte etwas Osmanisches, ganz vorne an der Stirn waren die schwarzen Haare kaum merklich angegraut. Seine Augen waren grün,  erforschten mich, ohne Umwand, ganz direkt. Ob ich mich auf einen Kaffee einladen ließe? Er wusste, dass ich einsam war, dass ich Gesellschaft wünschte. Er wusste, dass ich Tee mochte. Er wusste, dass ich das Teehaus gegenüber von der Uni der Kaffeeküche am Schottenring vorzog.
Mein Grenzgang begann.  Jener Grenzgang dauerte von 17-19 Uhr, führte durch die verschlungenen Gassen des ersten Bezirks, vorbei an der schnauzbärtigen, engrockigen High-Society der Wiener Rathausbürokratie. Er sei einer der letzten Erben Kaiser Konstantins. Das Medizinstudium habe er zu Ende gemacht, aber Arzt habe er dann doch nicht werden wollen. Er habe eine gute Freundin aus Stuttgart. Sie spreche ähnlich wie ich. Sie sei ebenso wortgewandt. Die Eltern verloren, als er fünf Monate alt war. Pierrot sein Name oder eine Erfindung für mich. Die Gassen des 1. Bezirks waren still und formten ein schattiges Pflastersteinlabyrinth an diesem heißen Sommertag. Etwas schien in ihnen zu lauern. Pierrot kam mir schnell nahe, musterte mich, tippte sofort richtig, dass ich Ballett getanzt hatte, aber etwas an meiner Haltung verrenkt war- und er wollte mich wieder zurechtbiegen in Gassen, in denen ich mich nicht alleine zurecht finden würde, nicht in dem Tempo zumindest, in dem wir sie durchflanierten. Im Palais Ferstel, wohltemperiert, plauderte er vom venezianischen Prunk des Palazzos, wollte sich auf dem Brunnen dort niederlassen, um meine blassen Arme zu mustern. Ich wehrte ab, verhedderte mich in schlagfertigen Phrasen, suchte Halt in den warm beleuchteten Schaufenstern der Passage. Komplimente ließ er wie nebenbei fallen und sie rannen meine Kehle herunter wie der Aperol Spritz, den er uns in der Bodega Marqués bestellte. Er begann von einem Kongress zu erzählen, ein Kongress gegen Rassismus und eine Journalistin, blond und großbusig habe ihn gefragt, welche Lösungen er für dieses Problem vorschlage: „Alle müssten solange durcheinander vögeln, bis wir alle dieselbe Hautfarbe haben“. Danach habe sie ihn danach gefragt, ob sie nicht Hautfarben vermischen wollten, aber er habe abgelehnt. Er konnte jede haben, wenn er wollte. Die klare Botschaft reizte mich, brachte mich in zwiespältige Wallung. „Dein Mund, wie er sich bewegt und aufbäumt. Zum  Küssen“, sagte Pierrot über orangenem Aperitif, er klang dabei beinahe zynisch. Ich begann mich zu wehren, Eindeutigkeiten verzweifelt wegzulachen und zu kontern, doch er hatte immer ein besseres Argument. Ich weiß nicht wie, aber ich folgte ihm nach unserem Drink erneut durch die Gassen, kaum nachdenkend darüber, was es war, das er mir zeigen wollte. Er sprach davon, mich bald in die Oper auszuführen. Im Kino laufe außerdem gerade ein guter Film mit Gérard Dépardieu. Ich erzählte ausweichend vom baldigen Besuch meines Bruders. Meines großen Bruders David. David, der Goliath besiegt hatte. Wir kamen vor einem wunderschön renovierten Altbau an.  Keine Seltenheit in Wien und noch weniger überraschend im ersten Bezirk. „Kannst du die Jahreszahl erkennen?“ Noch standen wir gegenüber auf der anderen Straßenseite. Das Baujahr des Hauses war 1423. Er bekam seine Wirkung. Ich drückte Erstaunen aus, nahm meine Sonnenbrille ab. Er gab mir einen sanften Impuls und wir überquerten die Straße. Er zog einen Schlüsselband aus der schwarzen Ledertasche, die er bei sich trug und schloss die Türe des, wie er sagte „ältesten Wohnhauses Wiens“ auf. Ich hielt die Tür gehorchend auf, aber weigerte mich, einzutreten. Mir war jetzt klar, dass der Kloß in meinem Hals keine angestauten verklumpten Komplimente über meine Figur und meinen Mund waren, sondern jene Angst vor einem Menschen, diesem Mann, jenem Pierrot. Es war seine Unnachgiebigkeit, seine Sicherheit beziehungsweise Eingeübtheit, die die Tür hinter mir ins Schloss fallen ließ und mich mit zitternden Knien in seine Wohnung beförderte, wo er die Vorhänge zuzog und wieder von Hinten meinen Körper vor einem großen Spiegelschrank behutsam zurechtzubiegen versuchte. Die Wohnung war fast leer, nur ein Foto hing an der Wand, auf dem Pierrot Weintrauben stampfte. Niemand würde mich hören, nur vielleicht die glatzköpfigen, zwillingsähnlichen Anzugträger, die an uns wie durch Zufall zweimal vorbeigelaufen waren und im Restaurant gelangweilt die Glut ihrer Zigaretten abgeklopft hatten. „Ich möchte gehen. Jetzt sofort.“ Er ließ mich los, er wirkte wütend. Wie ich meine Tränen hasste und wie ich sie liebte. Sie rannen die Wangen herunter und ein paar landeten auf seinem schwarzen Jackett, an das er mich herzlos drückte, um mich still zu kriegen. Ehe ich mich versah, standen wir wieder auf der Straße und seine Argumente, die Kalkül hatten, bretterten von Neuem los. Ich sei doch sein Herz, seine Schwester. Die Welt, ja die Welt ertrage er nur durch ewige, die erneuerbare, immer fortwährende Liebe. Er warte am nächsten Tag um 18 Uhr auf mich in der Glaserei, einem kleinen zweistöckigen Café am Wiener Ring. Anstatt in die Glaserei zu gehen, traf ich mich mit einer Freundin und kauerte in der Sonne auf einem der Plastikblöcke des Museumsquartiers und dachte daran wie er nun in der Glaserei sitzen würde, sich in der Sicherheit wiegend, dass ich dieses Mal seine Wohnung nicht so schnell wieder verlassen würde.

Text: koer

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