Freitag, 26. Oktober 2012

Durch die Nacht




Bild: koer
Er lief schon seit Stunden durch die Nacht und versuchte sich mit dem dumpfen Bass, der aus seinen Kopfhörern schallte, zu betäuben. Das Gras tat sein Übriges. Und so lief er und versuchte das Bild von ihr abzuschütteln, wie sie ihn angeschaut und geschwiegen hatte, wie sie leise aufgestanden war, so leise, dass er seinen eigenen Atem hören konnte, und wie sie sich nicht umgedreht hatte. Er versuchte abzuschütteln, dass er es nicht verstand, dass sie sich so lange streicheln mussten und dass er ihr immer wehtat. Mit den Punkermädchen war es um so vieles einfacher. Rauchen, ein eindeutiger Blick, ein Winkel in einer dunklen unbestimmten Gasse, deren kalter Betonboden für einige Minuten zum Lager wurde. Dann wieder Rauchen und auf ein unbestimmtes nächstes Mal. Die roten Lichter der Stadt erinnerten ihn an die Länder seiner Reisen. Rotes Licht auf dunklen Straßen und er immer auf der Suche nach dem Woanders-Sein. Rotes Licht, wie das, wenn die Sonne durch die geschlossenen Augenlider schien, es war warm und beruhigend. Rot, wie das Blut der Jungtiere im Labor, die man nicht brauchte und deren Schädel er an den Waschbecken zertrümmerte, so wie es der Vater immer mit den Katzenjungen getan hatte, die auf der Straße und zu viele waren. Einmal war eine junge Frau zu ihnen gekommen und begann den Vater zu beschimpfen, warum er so was tue, warum vor seinem Sohn, dass er sich schämen solle. Der Vater hatte sich aufgerichtet, war einen Schritt auf die Frau zugegangen, seine großen schweren Hände straff gespannt, sein Blick fest und unnachgiebig, und die Stimme der Frau wurde immer leiser und der Vater nahm die toten Jungtiere und schmiss sie in die Mülltonne. In dieser Nacht begann er durch das an den Hof anliegende Wäldchen zu streifen und durch das anliegende Industriegebiet, in dem bei Nacht alles fremd und unbestimmt war und in dem es bald auch keine Jungtiere mehr geben würde, die er töten könnte. Und wenn er dann spät in der Nacht nach Hause kam, traf er manchmal die Mutter, wie sie schweigend und vor sich hin starrend in der dunklen Küche saß und deren Blick genauso stumm war wie ihre Lippen, in der Nacht wie am Tag. Ihr Blick hingegen durchdrang ihn immer, dass es ihm nicht wohl war, dass es ihm nicht passte. Als sie in einer Nacht durch ihr Viertel streiften, hatte sie ihn zu einer Schaukel geführt und ihm ihre Kopfhörer aufgesetzt. Ruhige Töne lullten ihn ein, sie wippte neben ihm und wollte nicht mehr als seine Ruhe. Einmal wollte er das Gleiche für sie tun. Sie hatte geweint, weil sie nicht weiter wusste, weil sie die Tropfen nicht mehr nehmen wollte, die ihren Tag zusammenhielten, weil sie nicht verstand, dass alles kein Oben und Unten hatte. Er hatte sie auf sein Lager gelegt und zugedeckt und ihr Lieblingslied immer sich wiederholend abspielen lassen und gewartet, bis sie sich beruhigt hatte. Und als sie beim Morgengrauen rauchend am Fenster saß und die Passanten auf der Straße zählte, die schräg und nicht gerade über die Ampel gingen, hatte er ihr gesagt, dass er wisse, wie sie sich fühlt. Dann hatte sie ihn angeschaut und ihr Blick sprach mehr, als ihre Lippen es bisher getan hatten. Dann waren sie das erste Mal zusammen in die Mittagssonne getreten und ließen sich durch die Stadt treiben bis sie wieder am Stadtrand gestrandet waren, an dem die Tankstelle im Tageslicht keinen Schutz mehr bot und keine Straßenhunde und Nachtgestalten beherbergte. Und als sie dann wieder bei ihm waren und sie ins Bad ging, um sich aus- und umzuziehen, war er wütend geworden. Wütend darüber, dass sie das nicht vor ihm tun konnte, wütend darüber, dass sie so zerbrechlich war. Er war es auch nicht, nie gewesen. Er brauchte es auch nicht zu sein, es ging immer weiter, auch wenn das die Schulpädagogin nicht verstehen wollte. Es war nichts, er wäre nicht anders, wenn sein Vater anders gewesen wäre. Es gab nichts, worüber er reden musste, es gab nichts, woran er etwas ändern musste. Dass er seine Klassenkameraden nicht mochte, dass sie vor ihm zurückwichen, wenn er sich aufrichtete und einen Schritt auf sie zuging und sein Blick in sie bohrte, war nicht sein Problem. Dass sie zu schwach und ängstlich waren, war nicht sein Problem. Dass sie zu schwach war, war nicht sein Problem. Dass sie gegangen war, war nicht sein Problem. Und so ließ er sich von der Nacht verschlucken und von dem Bass seiner Kopfhörer betäuben und er lief immer weiter zu der Tankstelle am Rande der Stadt, um zu schauen, ob die Straßenköter Junge geworfen hatten, die zu viele waren und für die es sowieso nicht genug Müll gab, der sie hätte ernähren können. 

Text: meo

Samstag, 9. Juni 2012

Die Baustelle

                                                                   Bild: koer

Sie fuhren zu der Baustelle am Rande der Stadt. Die Straßen und die Vögel schwiegen, nur der Wind zischte durch die Speichen ihrer Räder, die sie von den Trinkern bei der alten Tankstelle geklaut hatten. Zwischen ihnen gab es kein Wort und kein Blick, nur die Unruhe. Sie ließen die Räder vor dem Zaun stehen und bestiegen das Gerüst, das kalt und silbern die nackte Fassade stützte und krochen in die dunkle Höhle aus Beton. Nur die Lichter der Kräne, die rot im Himmel brannten, spiegelten sich in seinen Augen, den Augen, die die Nacht und ihren Angstschweiß aufsogen, wie ein Lappen die verschüttete Flüssigkeit. Er hatte ihr vorgeschlagen, den Kran zu besteigen und sie hatte eingewilligt, ohne von ihrer Höhenangst zu sprechen. Die Höhenangst, die sie hatte, seitdem ihre Schwester ihre Puppe aus dem Fenster des Hochhauses geworfen hatte und die dumpf auf den grauen Platten zerborsten war. Mit diesem Abend hörten sie auf gemeinsam Wasserbomben auf die Passanten zu schmeißen, hörten sie auf Papierflugzeuge anzuzünden und zum Himmel zu schicken, wenn sie, wie so oft, nachts alleine waren, weil der Vater schon lange fort war und die Mutter wie so oft erst am frühen Morgen von irgendwo nach Hause kam. Er war in einen Nebenraum gegangen, sie hörte seine Schritte knirschend auf dem dreckigen Beton, hörte das Schnappen seines Feuerzeugs und seinen Atem, den sie jetzt gerne an ihrem Nacken gespürt hätte. Er legte sich auf den kalten und nackten Boden und rauchte seinen Joint. Er wusste nicht, warum er sie mit her genommen hatte, wusste nur, dass er nicht alleine sein wollte, dass er nicht wollte, dass diese Unruhe in seinen Eingeweiden tobte, um ihn taub und blind zu machen. Er wusste auch nicht, was das mit ihr war, warum er es nicht verstand, aber sie war klein und hübsch und zerbrechlich. Der Boden erinnerte ihn an den alten Keller, in dem er sich oft als Kind vor seinem Vater versteckt hatte, um wenigstens ein paar Stunden verschont zu bleiben, um sich einlullen zu lassen von der Dunkelheit und der Kühle, in der er sich geborgen fühlte und sicher und behütet. Seit dem er sie kannte, und sie ihm von den Katzen erzählt hatte, denen sie als kleines Mädchen immer heimlich Milch und Sardinen aus der Dose brachte, die eines Tages nicht mehr da waren, seitdem sie vor einigen Nächten auf der Straße eine streunende Katze gedankenversunken gestreichelt hatte, seitdem sah er sie manchmal vor sich im Labor, wenn er die Jungtiere tötete. Seitdem rauchte er bei der Arbeit manchmal einen Joint im angrenzenden Waldstück vor dem Lieferanteneingang. Sie kam zu ihm, ganz leise, und legte sich neben ihm, ohne ein Wort, was er mochte, und dass sie nicht miteinander reden mussten. Er wurde unruhig, trotz des Dopes, und fragte sie, ob sie ihn streicheln könne. Sie streichelte ihn, an den Wangen, über das Haar, an den Armen entlang und über den Bauch. Er beugte sich zu ihr um sie zu küssen, verharrte, ließ seine Hand unter ihren Pulli gleiten und griff ihr etwas hart in den Schritt. Sie rollte sich weg, er wurde wütend und fragte, ob sie sich immer wie 14jährige ewig streicheln müssten. Sie verstand nicht und versuchte die Beklemmung, das Zusammenziehen ihres Körpers, dass sie immer kleiner und kleiner werden ließ, nicht zu spüren. Er stand auf, verließ die Höhle aus Beton, trat dem Wind und der Kälte entgegen und steuerte auf den Kran zu. Seine Hände fassten den frostigen Stahl, der in seine Hände stach, doch es machte ihm nichts aus. Er fühlte sich sicher, denn die Stiche hielten ihn an dem Kran wie die Zunge an einem gefrorenen Eiszapfen. Als er die Hälfte bestiegen hatte, sah er sie auf ihr Fahrrad steigen und er wusste, dass sie weinte und es war ihm egal und es drückte auf seine Schläfe, doch das schüttelte er ab und er stieg höher, weiter ins Dunkel, weiter weg von der Stadt und weiter weg von dem Tag, der ihn Mühe gekostet hatte. Und so war er allein auf der Baustelle, wo die Straßen und die Vögel schwiegen und der Wind durch die Stahlträger des Krans zischte und für einen Moment fühlte er sich sicher und behütet in der Kälte und der Stille der Nacht.

Text: meo

Mitternacht

                                            Bild: koer

Es war kurz vor Mitternacht. Ihr Rücken schmerzte und irgendwo hinter ihren Augen drückte etwas gegen die Schädeldecke, zappelte wie das fahle Neonlicht der Straßenlaternen vor ihrem Fenster. Er hatte ihr eine SMS geschickt, dass er da sei und was sie so mache. Sie wusste sofort was sie machen würde, danach musste er nicht fragen. Draußen auf der Straße, deren Frost unter ihren Füßen knirschte, sog sie die Luft ein, die Nasenflügel weit offen, wie ein Säugling seine erste Muttermilch. Sie sog die Luft ein, wie ein Spürhund, der das Blut des angeschossenen Kaninchens wittert, mit Lust und Ungeduld. Der Weg war weit, den Hügel runter, auf die Hauptstraße der Stadt, an ihr entlang, vorbei an der still gelegten Tankstelle, bei der sich immer nachts die Trinker trafen, über den Bach in die helle und saubere Altstadt. Hier wohnte er in einem Hinterhof, in einer Höhle, die nach Moschus roch. Ihre Begrüßung bestand nur aus einem Augenblick, dann gingen sie in sein Zimmer, auf seine Matratze, die am Boden lag, schauten an die Decke und redeten. Und wenn sie so miteinander redeten, und sein Blick sie durchdrang, dann hatte sie das dringende Bedürfnis zu rauchen, den kalten Dampf tief in ihre Lungen zu ziehen, ihn so lange wie möglich in jede der Poren zu saugen, um ihn dann wieder freizugeben. Sie hatte in ihrer Brusttasche die Billigzigaretten aus der Kaufhalle dabei, die sie sich schon mit 14 gekauft hatte. Sie waren billig und gut. Er fragte sie, was sie sich wünsche, sie wusste es nicht, sagte aber, dass sie sich wünsche, dass ihre Wünsche sich erfüllten. Er wusste auch nichts und sagte, dass er sich wünsche, Menschen kennen zu lernen und mit ihnen zurecht zu kommen. Das wünschte sie sich insgeheim dann auch. Dass er nicht immer so provokant und dann so unsicher und dann so bissig sein würde. Dass er sich nicht bei Sonne auf der Wiese nackt neben sie legen würde, selbstbewusst mit durchgedrücktem Rücken und davon erzählen würde, wie er gerne das Nachbarsmädchen durchnehmen würde, dass sie es verdiente  in den Po gefickt zu werden. Wenn er so sprach, dann mochte sie ihn nicht. Auch wenn gerade diese Kraft, diese kalte Wut, sie angezogen hatte, wie eine Fliege an einen Klebestreifen, der nicht hielt, was er versprach. Als sie sich das erste Mal nach vielen Nächten, in denen sie geredet, geraucht und getrunken hatten, in denen sie schrittgleich wie ein Ganzes durch die Gassen gezogen waren, näher kamen, spielte er auch mit ihr. Sie waren auf seinem Lager, das nach Moschus roch, und sie las ihm vor. Er begann an ihrem Zeh zu spielen, sie las ihm vor, er strich ihr über die Arme, sie las weiter, und es fühlte sich zärtlich an. Doch es war genauso zärtlich, wie die Katze mit ihren weichen Tatzen, aus denen die Krallen fuhren, die Maus wie einen Federball immer wieder durch die Luft schleuderte, immer wieder hin und her. Und als sie dann müde war und Lust bekam, ließ er sich lachend dazu herab sie zu küssen. So machte er es immer, seit er mit 13 Mädchen verführte, seit er der großen schwer herabbrausenden und tobenden Hand seines Vaters entkommen wollte, seit er wusste zu spielen. Dann trieb er sich durch die Nacht und durch die Punkermädchen, die er nachts traf. Nur war dieses Mädchen hier unter ihm kein Punkermädchen, sie war klein und hübsch und zerbrechlich. Und dass er sie zerbrechen konnte, reizte und beschwerte ihn und diesem Druck entkam er nur, wenn er es ignorierte und ihr nicht in die Augen sah. Dann sah sie in seine Augen, sah dieses Funkeln, dass sie nachts bei den Straßenhunden immer gesehen hatte, die ausgehungert den Müll durchsuchten und sie, die an ihnen vorbei musste, fixierten. Sie sah in seinen Augen sich selbst, ein Etwas aus Fleisch und Blut, das unter ihm pulsierte, nichts mehr. Dann sah er, dass sie ihn sah, dass sie sah, wie er sie sah, und brach ab. Dann lag sie frustriert neben ihm, weil sie gerne gelitten hätte, weil sie sich gerne verschlungen lassen hätte, um dieses Schwarz zu kosten, in dieser Höhle, die nach Moschus roch. Dann lag er frustriert neben ihr, weil er mit ihr nicht das machen konnte, was er gewohnt war zu tun. Dann streichelte sie ihn, dann fragte er sie ob sie es auch ohne Gummi tun könnten, dann sagte sie ja, dann blutete sie, weil sie die Tage hatte und dann verstummten sie. Dann redeten sie nicht mehr über ihren Tag, nicht mehr darüber, wie er die anderen Laboranten verabscheute, nicht mehr darüber, dass sie heute nur zwei Seiten geschrieben hatte, von denen sie fast eine Ganze wieder gelöscht hatte. Ihr Rücken schmerzte immer noch und das fahle Neonlicht der Laterne vor seinem Haus zappelte ein bisschen, erlosch dann und irgendwann schloss sie die Augen und war bereit zu gehen. Raus in die Nacht, die nach Erde roch, deren Luft sie tief in ihre Nasenflügel ziehen würde, wie ein Säugling seine erste Muttermilch.

Text: meo

Freitag, 1. Juni 2012

Ein Mann, der sich auskannte



Bild: meo




Ein Mann, der sich auskannte 



Die Treppenhäuser des Wiener Universitätsgebäudes sind um einen schattigen Kreuzgang angesiedelt. Alle fünf Schritte führt eine Schwingtür aus dunkelbraunem Holz ab. Nur wenn man die Stiegen-Nummer weiß, kann man abschätzen, wo diese Treppen hinführen. Während meiner Studienzeit an der Uni Wien verirrte ich mich regelmäßig in jenen Höhlen der Lehre. Die Treppenstufen wie auch die Böden des Gebäudes sind aus Marmor. Die Stiege sechs, der Aufgang zur Bibliothek, bietet einen besonders mondänen Anblick. Einige Stufen führen geradeaus und die beiden anderen Treppenabsätze jeweils nach links oder rechts, die weitere Dimensionen nur andeuten. Eine Kuppel aus Glas hüllt das Treppenhaus in ein angenehmes Licht und die Stimmen der Treppensteiger hallen in dessen Volumen, ohne je ganz verebben zu scheinen. Nach dem ersten Treppenabsatz der Stiege sechs befindet sich eine Inschrift aus Messing in Erinnerung an einen Wiener Studenten und Widerstandskämpfer, der auf diesem Fleck Opfer des Naziterrors wurde. Von einer Empore im Reich des Marmors haben sie ihm den Genickschuss verpasst, vielleicht als er dort gerade politische Flyer hinunterwirbeln ließ. Es ist noch kein Jahr her als ich eben jene Stiege sechs zur Hauptbibliothek nehmen wollte, um einige Bücher abzuholen. Es war ein heißer Tag im Juni. Ich war ohne Büstenhalter aus dem Haus gegangen. Ich kann es  nicht leiden, wenn er anfängt auf der Haut zu kleben und die Brustwarzen anschwellen, weil sie sich an der Synthetik reiben. Gerade als ich mir überlegte, ob ich wohl lieber doch einen getragen hätte, bemerkte ich jemanden hinter mir. Es waren nur einige Sekunden, in denen ich ihn erhaschte. Ein hochgewachsener Mann in schwarzem Anzug. Breite Schultern. Stattliche Erscheinung. Mit ausreichendem Abstand, professionell, vielleicht manieriert, drückte er hinter mir die Türe auf. Ich sah seine große Hand, gepflegt, feine schwarze Härchen auf dem Handgelenk und eine wertvolle Armbanduhr mit römischem Ziffernblatt. Dann ging er hinter mir die Treppe hoch. Ich bemerkte verlegen, wie er sich meinem Schritttempo anpasste, dachte daran, dass er, wenn er wollte, mit seinen Blicken meinen Hüften und meinem Gesäß folgen konnte. Ich war erregt. Ich drehte mich kurz um und verlangsamte meinen Schritt. Der Mann legte den Kopf etwas in den Nacken und begutachtete das Gebäude, als ob er zum ersten Mal hier sei und stellte laut, wie zu sich selbst, fest, dass sie an der Uni Wien schon wieder viel renoviert und gemacht hatten. Dabei lächelte er zu mir hoch und ich erwiderte, dass ich an diesen Renovierungen und dem frisch gemachten Rasen unten im Kreuzgang zumindest nichts Schlechts finden konnte. Ich lachte ihn an und fuhr mir ganz bewusst durchs Haar. Ich dachte über meine freiliegenden Brüste unter dem Bolerojäckchen nach. Wir kamen ins Gespräch. Er mache seine zweite Doktorarbeit hier an der Uni Wien in interkultureller Philosophie. Hinter seinem Wiener Dialekt hörte ich einen ausländischen Einschlag. Ich schätzte ihn zwischen 40 und 50 Jahren, seine Physiognomie hatte etwas Osmanisches, ganz vorne an der Stirn waren die schwarzen Haare kaum merklich angegraut. Seine Augen waren grün,  erforschten mich, ohne Umwand, ganz direkt. Ob ich mich auf einen Kaffee einladen ließe? Er wusste, dass ich einsam war, dass ich Gesellschaft wünschte. Er wusste, dass ich Tee mochte. Er wusste, dass ich das Teehaus gegenüber von der Uni der Kaffeeküche am Schottenring vorzog.
Mein Grenzgang begann.  Jener Grenzgang dauerte von 17-19 Uhr, führte durch die verschlungenen Gassen des ersten Bezirks, vorbei an der schnauzbärtigen, engrockigen High-Society der Wiener Rathausbürokratie. Er sei einer der letzten Erben Kaiser Konstantins. Das Medizinstudium habe er zu Ende gemacht, aber Arzt habe er dann doch nicht werden wollen. Er habe eine gute Freundin aus Stuttgart. Sie spreche ähnlich wie ich. Sie sei ebenso wortgewandt. Die Eltern verloren, als er fünf Monate alt war. Pierrot sein Name oder eine Erfindung für mich. Die Gassen des 1. Bezirks waren still und formten ein schattiges Pflastersteinlabyrinth an diesem heißen Sommertag. Etwas schien in ihnen zu lauern. Pierrot kam mir schnell nahe, musterte mich, tippte sofort richtig, dass ich Ballett getanzt hatte, aber etwas an meiner Haltung verrenkt war- und er wollte mich wieder zurechtbiegen in Gassen, in denen ich mich nicht alleine zurecht finden würde, nicht in dem Tempo zumindest, in dem wir sie durchflanierten. Im Palais Ferstel, wohltemperiert, plauderte er vom venezianischen Prunk des Palazzos, wollte sich auf dem Brunnen dort niederlassen, um meine blassen Arme zu mustern. Ich wehrte ab, verhedderte mich in schlagfertigen Phrasen, suchte Halt in den warm beleuchteten Schaufenstern der Passage. Komplimente ließ er wie nebenbei fallen und sie rannen meine Kehle herunter wie der Aperol Spritz, den er uns in der Bodega Marqués bestellte. Er begann von einem Kongress zu erzählen, ein Kongress gegen Rassismus und eine Journalistin, blond und großbusig habe ihn gefragt, welche Lösungen er für dieses Problem vorschlage: „Alle müssten solange durcheinander vögeln, bis wir alle dieselbe Hautfarbe haben“. Danach habe sie ihn danach gefragt, ob sie nicht Hautfarben vermischen wollten, aber er habe abgelehnt. Er konnte jede haben, wenn er wollte. Die klare Botschaft reizte mich, brachte mich in zwiespältige Wallung. „Dein Mund, wie er sich bewegt und aufbäumt. Zum  Küssen“, sagte Pierrot über orangenem Aperitif, er klang dabei beinahe zynisch. Ich begann mich zu wehren, Eindeutigkeiten verzweifelt wegzulachen und zu kontern, doch er hatte immer ein besseres Argument. Ich weiß nicht wie, aber ich folgte ihm nach unserem Drink erneut durch die Gassen, kaum nachdenkend darüber, was es war, das er mir zeigen wollte. Er sprach davon, mich bald in die Oper auszuführen. Im Kino laufe außerdem gerade ein guter Film mit Gérard Dépardieu. Ich erzählte ausweichend vom baldigen Besuch meines Bruders. Meines großen Bruders David. David, der Goliath besiegt hatte. Wir kamen vor einem wunderschön renovierten Altbau an.  Keine Seltenheit in Wien und noch weniger überraschend im ersten Bezirk. „Kannst du die Jahreszahl erkennen?“ Noch standen wir gegenüber auf der anderen Straßenseite. Das Baujahr des Hauses war 1423. Er bekam seine Wirkung. Ich drückte Erstaunen aus, nahm meine Sonnenbrille ab. Er gab mir einen sanften Impuls und wir überquerten die Straße. Er zog einen Schlüsselband aus der schwarzen Ledertasche, die er bei sich trug und schloss die Türe des, wie er sagte „ältesten Wohnhauses Wiens“ auf. Ich hielt die Tür gehorchend auf, aber weigerte mich, einzutreten. Mir war jetzt klar, dass der Kloß in meinem Hals keine angestauten verklumpten Komplimente über meine Figur und meinen Mund waren, sondern jene Angst vor einem Menschen, diesem Mann, jenem Pierrot. Es war seine Unnachgiebigkeit, seine Sicherheit beziehungsweise Eingeübtheit, die die Tür hinter mir ins Schloss fallen ließ und mich mit zitternden Knien in seine Wohnung beförderte, wo er die Vorhänge zuzog und wieder von Hinten meinen Körper vor einem großen Spiegelschrank behutsam zurechtzubiegen versuchte. Die Wohnung war fast leer, nur ein Foto hing an der Wand, auf dem Pierrot Weintrauben stampfte. Niemand würde mich hören, nur vielleicht die glatzköpfigen, zwillingsähnlichen Anzugträger, die an uns wie durch Zufall zweimal vorbeigelaufen waren und im Restaurant gelangweilt die Glut ihrer Zigaretten abgeklopft hatten. „Ich möchte gehen. Jetzt sofort.“ Er ließ mich los, er wirkte wütend. Wie ich meine Tränen hasste und wie ich sie liebte. Sie rannen die Wangen herunter und ein paar landeten auf seinem schwarzen Jackett, an das er mich herzlos drückte, um mich still zu kriegen. Ehe ich mich versah, standen wir wieder auf der Straße und seine Argumente, die Kalkül hatten, bretterten von Neuem los. Ich sei doch sein Herz, seine Schwester. Die Welt, ja die Welt ertrage er nur durch ewige, die erneuerbare, immer fortwährende Liebe. Er warte am nächsten Tag um 18 Uhr auf mich in der Glaserei, einem kleinen zweistöckigen Café am Wiener Ring. Anstatt in die Glaserei zu gehen, traf ich mich mit einer Freundin und kauerte in der Sonne auf einem der Plastikblöcke des Museumsquartiers und dachte daran wie er nun in der Glaserei sitzen würde, sich in der Sicherheit wiegend, dass ich dieses Mal seine Wohnung nicht so schnell wieder verlassen würde.

Text: koer

Mittwoch, 9. Mai 2012

Bild: meo


Gemeinsam sind sie draußen auf dem Land.
Ihre Beine staken durch Sand.
Sie weiß nichts von der Silhouette, die sie ist im Licht der Natur, und 
welches heilen kann, nimmt sie es an.
Sie läuft wie auf Geröll,  erkennt die Textur des Untergrunds nicht. 
Sein Atem ist nicht in Frieden. Er kann nicht schwimmen.
Sie hat sich seiner angenommen, weil sie das selber braucht.
Die Bäuche sind nach außen gekehrt, die Augen nach innen.
Er versucht die Melodie zu summen, die er vergessen hat.
Es strengt ihn an. Er schlägt auf nasses Holz ein.
Ihre Art ist das nicht. Sie weiß nichts über Musik und akzeptiert.
Sie schlägt sich durch das Dickicht der Stille, sieht zu, wie der See vibriert. 
Selbstverloren zupft er an den Saiten der Gitarre und will nicht wissen, dass sie nicht hört.
Nicht hören kann.


Text: koer

Dienstag, 10. April 2012

Die Eltern

                                                         Bild: koer



Es war so schwer zu sagen, wer sie waren, seine Eltern. Was er wusste war, dass sein Vater aus einer konservativen Familie kam, in der der Mann zuerst das Essen serviert bekam. Eine Familie, in der die drei Söhne unter der strengen Hand ihres Vaters groß geworden waren und sich mit Anfang zwanzig noch Prügel abholen durften, wenn sie betrunken nach Hause kamen. Seine Mutter kam aus einer Familie, in der ihre Mutter den Mann im Krieg verloren hatte, in der sie mit den drei Mädchen über das Land floh, zu der nächsten deutschen Stadt am Meer, zu der ihre Füße sie tragen konnten. Eine Familie, in der das eine Mädchen auf der Flucht an Lungenentzündung gestorben war und ihre Mutter die zwei übrigen Mädchen allein in einem alten Backsteingebäude am Rande der großen Stadt groß zog. Nun saß er in der leeren Wohnung, in der sein Vater an Krebs gestorben war und seine Mutter mehr als einmal betrogen hatte, wie es auch die Brüder des Vaters mit ihren Frauen getan hatten, wie es der Vater des Vaters schon mit seiner Frau getan hatte. Er hielt das Foto der Hochzeit seiner Eltern in der Hand und versuchte aus dem Schwarzweiß zu lesen, in dem sie ihre Augen verbargen und scheinbar an der Kamera vorbeizuflüchten versuchten. War das einfach nur eine Momentaufnahme oder war es ein Vorzeichen ihrer Ehe? Augen zu und durch? Eigentlich hatte seine Mutter nie heiraten wollen, eigentlich hatte sie die Eigenständigkeit und Halsstarrigkeit von ihrer Mutter nicht nur mit der Muttermilch aufgenommen, sondern auch durch die Flucht, das Suchen und Sammeln zurückgebliebener unreifer Kartoffeln auf den Äckern, das Töten und Häuten der Kaninchen, die sie sich in einer kleinen Box im Garten hielten, um über den Winter zu kommen. Warum hatten sie geheiratet? Warum hatte er selbst nie geheiratet? Warum versuchte er immer von den Frauen weg zu kommen, die er liebte? Warum rief er sie nie an, wenn er auf seinen langen Reisen unterwegs war, und sagte ihnen, dass er sie vermisse? Die Arbeit als Drehbuchautor, die kleinen und großen Abenteuer, die er suchte, um einen Stoff besser zu entwickeln, der schmerzende verkrampfte Rücken und die müden Augen, wenn er nächtelang die Seiten am Computer zu füllen versuchte, hatten ihn nur seinen Figuren näher gebracht, aber nicht den Frauen, die er wohl liebte. Die alte Küchenuhr tickte in der Küche, wie sie es schon vor dreißig Jahren tat, an dem Morgen seiner Einschulung. Sie tickte genauso, wie sie es vor siebzehn Jahren tat, an dem Nachmittag, als er die elterliche Wohnung verließ, um die Filmhochschule zu besuchen. Genauso, als seine Mutter ihm vor sechzehn Jahren sagte, dass sie den Vater verlassen würde, dass sie die vielen Frauen nicht mehr zählen könne. Nur dass sie damit auch ihn, den Sohn verlassen würde, hatte sie ihm nicht gesagt. Als er mit dem Foto in der Hand in das alte Schlafzimmer der Eltern ging, was in den letzten Jahren nur noch das Schlafzimmer des Vaters gewesen war, knarrten die Holzdielen genauso, wie zu der Zeit, in der er sich noch heimlich vom Wohnzimmer in die Küche zu schleichen versuchte, die direkt neben dem Schlafzimmer lag, um ein bisschen von dem Kuchen zu naschen, den die Mutter manchmal Sonntags gebacken hatte. Er wusste nicht, ob diese Erinnerung zusammenpasste mit dem schalen Nachgeschmack, den er immer hatte, wenn er an seine Kindheit dachte. Nun hatte er dieses Foto in der Hand,  in der leeren Wohnung, in der sein Vater an Krebs gestorben war, und wusste nicht, ob er es behalten oder wegschmeißen sollte.


Text: meo

Mittwoch, 4. April 2012

Immer abends



                                         Bild: koer


Sie trafen sich immer abends bei der alten Kaufhalle, im Winkel des alten Ortsteiles, wo die Luft noch roch und die Sterne sichtbar waren. Sie waren immer ausgehungert von dem Tag, der in seiner unnachgiebigen Zähigkeit an ihnen gezerrt hatte. Und wenn das blaue Licht das rote ersetzte, trafen sie sich. Dann glitten sie durch die engen Gänge der Regale, die voll gestopft waren mit wächsernen Früchten, staubigen Broten und blutendem Fleisch. Und ihr Hunger kannte keine Grenzen, auch wenn ihr Speichel verdorrt war, wie ein Flussbett in der Wüste. Sie hatte ihren Tag damit verbracht, die Tropfen zu zählen, die sie zusammenhalten sollten, wie Klebstoff ein zerbrochenes Glas, das noch zu gut war, um es wegzuwerfen, aus dem man noch trinken konnte, wenn auch schnell, damit die Flüssigkeit sich nicht durch die Ritzen verflüchtigen konnte. Sie hatte ihren Tag damit verbracht, vor dem Rechner zu sitzen, damit irgendetwas passierte, damit sie diese Langeweile dazu trieb, etwas zu tun, damit sie ein Wort an das andere reihte, damit sich die Seiten füllten, damit sie ihren Eltern sagen konnte, ich habe etwas erreicht. Er hatte seinen Tag damit verbracht, die Jungtiere im Labor zu töten, ihre Schädel an Waschbecken zu zertrümmern, und obwohl er diese Arbeit mochte, keine Befriedigung darin fand. Er hatte seinen Tag damit verbracht, nicht an seinen Vater zu denken, der ihn einst genauso zertrümmert hatte. Während sie das blutende Fleisch von den Haken nahmen und in ihre Beutel packten, musste sie daran denken, wie sie ihn kennen gelernt hatte. Wie sie ihn kennen gelernt hatte im Labor der Universität. Wie das kalte blaue Licht seine dunklen Augenhöhlen nicht auszuleuchten vermochten, wie er sie immer fixierte, wenn er seine Proben in den Kühlraum brachte. Dann wünschte sie sich, mit ihren Fingern über seine Augenbrauen zu fahren und mit ihren Lippen seine Lider zu berühren, um diese Schwärze zu kosten. Sie wusste nicht mehr wie, aber sie kamen ins Gespräch. Über die Versuchsreihe, über ihre Eltern. Das könnten sie ein anderes Mal besprechen, antwortete er ihr auf ihre Offenheit, von der sie nicht wusste, warum sie einfach so aus ihr ausgebrochen war, wie sie sich durch die raue Kehle zwischen ihre Zunge und den Gaumen gepresst hatte. Die Taschen voll gepackt mit dem Fleisch gingen sie zu ihr, wo es heller war, wo es weiter weg war von der Stadt und dem Labor. Wo sie sich beide einzureden versuchten, dass sie einander halten konnten, wie der Klebstoff das Glas, das zerbrochen war, aber noch zu gut, um es wegzuwerfen. Und sie brieten das Fleisch in heißem Fett, wo sie still dem Brutzeln und Zischen zuhörten und die Spritzer beobachten, die sich auf den weißen Fliesen sammelten. Und sie beobachteten, wie das Blut sich braun zerklumpte und in dem Fett zu knusprigen, fast schwarzen Brocken wurde, aus denen sie ihm dann seine Zukunft lesen würde. Die Brocken waren immer das Beste, sie kratzten sie mit dem Messer aus der Pfanne aus, und aßen sie so gierig, dass ihnen das Fett an den Mundwinkeln über das Kinn heruntertriefte. Denn sie waren ausgehungert von dem Tag, der in seiner unnachgiebigen Zähigkeit an ihnen gezerrt hatte.

Text: meo